Neutralität ist keine Naivität

Nach dem Irakkrieg und mitten im transatlantischen Taumel verbrachte ich ein Sabbatical in Oxford – und nannte Tony Blair einen Kriegsverbrecher. Der Professor war entsetzt, doch das Völkerrecht gibt mir recht. Heute scheint sich die Schweiz in Richtung NATO zu bewegen – höchste Zeit, über Neutralität, Geschichtsvergessenheit und politischen Konsens zu reden.

9/11 war vorbei und der zweite Golfkrieg, bei dem eine «Koalition der Willigen» NATO-Länder den Irak unter einem fabrizierten Vorwand angegriffen und besetzten, hatte auch schon stattgefunden.

In dieser Zeit verbrachte ich ein Sabbatical an der englischen Universität Oxford. In einem Seminar bezeichnete ich den damaligen britischen Premierminister Tony Blair als Kriegsverbrecher. Der Professor war peinlich berührt und entgegnete, dass das wohl nicht mein Ernst sein könne.

«Kriegsverbrecher», so sagte ich, sei ein durch das Völkerrecht definierter Begriff. Jemand, der das Kriegsvölkerrecht verletze, könne mit Fug und Recht als Kriegsverbrecher bezeichnet werden:  

«Ein Angriffskrieg ist ein Verbrechen gegen den Frieden. […] Einen Angriffskrieg zu planen, vorzubereiten, zu entfachen oder durchzuführen […] stellt ein internationales Verbrechen dar. »
Nürnberger Prinzipien, verabschiedet von der UN-Vollversammlung am 11. Dezember 1946

Ein unprovozierter Angriffskrieg wie derjenige auf den Irak sei eine Verletzung des Völkerrechts und würde die Benützung des Begriffs rechtfertigen – auch wenn insbesondere die USA Blair schützen würden. Die UNO-Waffeninspektoren im Irak hätten einen guten Job gemacht. Sie hätten Massenvernichtungswaffen gesucht und nicht gefunden. Auch die «Koalition der Willigen» habe im Irak nichts Derartiges gefunden. Damit sei das als unprovozierter Angriffskrieg zu werten und Blair ein Kriegsverbrecher. Wumms.

Der Professor ließ mich ausreden, wechselte aber dann flugs das Thema. In der Kaffeepause und beim abendlichen Bier im Pub war das aber das große Thema.

Und nun scheinen Kräfte in den Schweizer Eliten daran zu sein, unser Land näher an die NATO zu führen. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) gibt sich gerne atlantisch. Vorgestern hob deren Redaktor Georg Häsler die Worte «Neutral, unbewaffnet – und bedroht» auf die gleiche Ebene und bastelte daraus einen Titel.

Was auffällt: Häsler übernimmt das im Gefolge der 68-er Bewegung entstandene Narrativ über die Schweiz im 2. Weltkrieg mit Suggestivfragen wie: «was, wenn die Schweiz das nächste Mal kein Glück hat?» und schiefen Vergleichen wie «Die (unbewaffneten!) Niederländer und Belgier sind auch überrollt worden.» Es nervt, dass in der heutigen Zeit kaum mehr darauf hingewiesen wird, dass es im 2. Weltkrieg viele neutrale Länder gegeben hat – die meisten sind unversehrt geblieben. Von NATO-Freunden wird immer auf die Ausnahme – Holland und Belgien – hingewiesen, nicht auf die Regel:

Spanien, Portugal, Irland, Schweden, aber auch die Türkei und einige andere außereuropäische Länder waren neutral und blieben unversehrt.

Schweden lieferte über den geostrategisch wichtigen deutsch besetzten Hafen Narvik in Norwegen das kriegswichtige Eisenerz und hatte geostrategisch eine weniger wichtige Position und wurde in Ruhe gelassen.

Spanien und Portugal, vor allem Spanien, sympathisierten zwar mit dem Hitler-Regime, blieben aber trotzdem neutral und unversehrt mit ihrem Zugang zu den Weltmeeren im Falle Portugals mit einem weitläufigen Kolonialreich.

Irland ist abseits gelegen. Großbritannien hätte es aber gerne gesehen, wenn das Land auf seiner Seite in den Krieg eingetreten wäre. Dublin konnte aber erfolgreich widerstehen.  Dennoch gab es eine Reihe von geheimen militärischen und geheimdienstlichen Kooperationen mit den Alliierten, insbesondere betreffen den Hafen von Limerick und der in unmittelbarer Nähe gelegene Flughafen Shannon zum Umschlag von kriegswichtigen Gütern, wenn der direkte Weg von den USA nach Großbritannien ohne Versorgungsstop zu lange war.

Dass ein neutraler Staat wie die Schweiz heil durch einen Krieg kommt, ist beileibe keine Ausnahme. Die oben genannten Beispiel zeigen aber auch, dass eine Neutralitätspolitik Erfolg hat, wenn ein gewisser innenpolitischer Konsens in Bezug auf Außenpolitik besteht. Im 2. Weltkrieg hätten zum Beispiel Österreich und die Tschechoslowakei eine Neutralitätspolitik nicht mit Aussicht auf Erfolg durchziehen können, weil es große Differenzen in Bezug auf die außenpolitische Orientierung gab. Und diesen Konsens müssen wir in der Schweiz wieder herstellen, zum Beispiel durch Annahme der Neutralitätsinitiative. Wir sollten NATO-Schreiberlingen und Transatlantikern wie Häsler im Rahmen des Abstimmungskampfes freundlich, aber entschlossen und mit guten Argumenten entgegentreten.

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