Daniel Woker behauptet, die Schweiz verschanze sich «in der vermeintlichen Friedensinsel Neutralität». Dabei hat er als Botschafter jahrzehntelang vom guten Ruf der Neutralität der Schweiz profitiert.
Ein kürzlicher Meinungsartikel im Tagesanzeiger ist ein gutes Beispiel, mit welchen Begriffen und Bildern versucht wird, die Neutralität schlechtzureden.
Ein paar Kernaussagen:

«Putins Russland rüstet sich zur Aggression gegen Osteuropa. Europa wehrt sich dagegen. Allein die Schweiz verschanzt sich auf der vermeintlichen Friedensinsel Neutralität.»
Kommentar: Dass Russland einen Angriffskrieg gegen Europa plane, ist eine oft wiederholte Behauptung, um Aufrüstung zu begründen. Wer nur ein klein bisschen etwas von militärischer Strategie versteht, dass ein solcher Angriffskrieg höchst unwahrscheinlich ist.
Erstens gilt nach wie vor Art. 5 des Nordatlantik-Vertrags, der bei einem Angriff auf ein (Nato-)Mitglied eine koordinierte militärische Antwort aller Nato-Staaten auslöst.
Diese sind in Bezug auf Rüstung, Truppenstärke, Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft Russland um Faktoren überlegen. Ein Angreifer muss nach konventioneller Lehre aber über eine dreifache Überlegenheit verfügen.
Zur Verschanzung in der «neutralen Friedensinsel»: Erstens bedeutet die Neutralität keine Verschanzung, sondern im Gegenteil Bereitschaft zum Gespräch und zur Leistung von guten Diensten. Die Schweiz war im Zweiten zwar eine Friedensinsel, hat sich aber keineswegs verschanzt. Im Gegenteil: In der Schweiz haben Gespräch stattgefunden, die das Ende des Zweiten Weltkriegs mitgeprägt haben. Dank der Neutralität war die kleine Schweiz eine diplomatische Grossmacht.
«Neben dem deutschen Paket zur Aufrüstung hat die EU-Kommission ein ebenso gigantisches europäisches Pendant vorgelegt, voraussichtlich finanziert mit Anleihen der EU. Eine europäische Restrukturierung ist also in vollem Gange. Alle machen mit. Wiederum konkret ausgedrückt, hat sich beispielsweise das neutrale Irland mit einer Miniberufsarmee von 30’000 Mann bereit erklärt, an europäischer Waffenstillstandsüberwachung in der Ukraine teilzunehmen. Allein die Schweiz tut, als ginge sie das nichts an.»
Kommentar: Natürlich geht es die Schweiz etwas an, wenn um sie herum aufgerüstet wird. Und das wird auch die eigene Rüstung und Verteidigungsfähigkeit betreffen. Aber das bedeutet andrerseits nicht, dass sie sich an Rüstungsprogrammen eines Militärblocks beteiligen muss. Sie muss vielmehr eine eigene Sicherheitsstrategie auf der Basis der Neutralität entwickeln
«Eine Mehrheit im schweizerischen Parlament ist dagegen der Meinung, der Bundesrat solle sich aktiver für die Sicherheit Europas einsetzen. Das Dasein der Schweiz auf einer imaginären neutralen Friedensinsel ist im Europa von heute vorbei.»
Kommentar: Die neutrale Friedensinsel ist keineswegs eine Imagination der Vergangenheit, sondern ein konkretes Ziel für die Zukunft. Ein neutrales Land, das niemandem schadet und weltweit gute Dienste leistet, ist ein unverzichtbarer Faktor in der Geopolitik, den niemand leichtfertig aufs Spiel setzt. Warum sollte eine neutrale Schweiz denn angegriffen werden?
Daniel Woker ist ehemaliger Botschafter der Schweiz in Kuweit, Katar und Bahrein, dann in Singapur und in Australien. Davor war er Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik. Nach dem Ausscheiden aus dem EDA wurde er Lehrbeauftragter an der Uni St. Gallen HSG.
Daniel Woker: Unser Dasein als Insulaner kommt an ein Ende. 13.3.2025
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Christian Müller: «Da muss ich mich als Schweizer schämen!». 29.7.2024
2 Antworten
„Putins Russland“ sagt schon alles. An Mitläufertum nicht zu überbieten!
„Friedensinsel“ klingt so gemütlich, so bequem. Neutralität erfordert aber grosse Stärke! Es ist nicht leicht, sich zwischen zwei Feuern aufrecht zu halten; unter Umständen wird man von beiden angegriffen, wenn auch vermutlich nicht mit Waffen. Frieden erfordert Mut; Vermittlung grosse Kreativität, Einfühlungsvermögen, Wachheit, Beweglichkeit. Und Intelligenz – und Geschichtskenntnis! Wären diese Qualtäten unter europäischen Politikern mehr verbreitet, hätte es nie zu der gegenwärtigen verrückten Situation kommen können. Friedensmut wünsche ich mir für die Schweiz!