Erfreuliche Nachrichten aus dem globalen Süden, wo «eine regelrechte Renaissance neutraler Prinzipien» zu beobachten ist, so Pascal Lottaz, Professor für Neutralitätsstudien in Japan in einem jüngst erschienen Artikel. Viele Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika haben im Ukrainekrieg weder Partei ergriffen noch Sanktionen unterstützt und pflegen zu Russland und zur Ukraine gute Beziehungen. Darauf müsste sich auch die Schweiz wieder zurückbesinnen.
Anlass zur Sorge gibt die Entwicklung in Europa. Finnland und Schweden sind der Nato beigetreten. Irland, Malta, Österreich und die Schweiz haben sich mit dem Ukraine-Krieg politisch und wirtschaftlich auf die Seite der Ukraine geschlagen und die Sanktionen gegen Russland übernommen. Damit haben sie die integrale (gesamtheitliche) Neutralität zugunsten einer differenziellen Neutralität aufgegeben.
Optimistisch macht hingegen, was aus der südlichen Hemisphäre schon seit längerem zu hören ist, so zum Beispiel von Indien, das sich vom Westen nicht dazu drängen lässt, sich politisch einseitig auf eine Seite zu schlagen, sondern auf einer eigenständigen Außenpolitik im Interesse seiner Bevölkerung besteht. In einem Interview fragte eine Journalistin den indischen Außenminister Subrahmanyam Jaishankar folgendes:
«Herr Jaishankar, es wird immer zwei Achsen geben. Ich denke, es ist mittlerweile eine allgemein akzeptierte Tatsache, dass es den Westen gibt, angeführt von den USA. Und dass China die nächste potenzielle Achse ist. Wo passt Indien in dieses Bild?»
«Nein, tut mir leid», antwortete der Außenminister. «Genau in diesem Punkt stimme ich Ihnen nicht zu. Das ist ein Konstrukt, das Sie mir aufzwingen wollen. Und das akzeptiere ich nicht. Ich meine, ich halte es nicht für notwendig, mich dieser Achse anzuschließen oder nicht, und wenn ich mich dieser nicht anschließe, muss ich mich der anderen anschließen. Das akzeptiere ich nicht. In Indien lebt ein Fünftel der Weltbevölkerung. Indien ist heute die fünft- oder sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt. (…) Wir haben das Recht, unsere eigenen Interessen abzuwägen und unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Und unsere Entscheidungen werden nicht zynisch und berechnend sein. Aber sie werden ein Gleichgewicht zwischen unseren Werten und unseren Interessen darstellen. Es gibt kein Land auf der Welt, das seine Interessen missachtet.»
«Wenn man für über ein Fünftel der Weltbevölkerung sprechen will», antwortete die Journalistin, «kann man sich in außenpolitischen Fragen nicht neutral verhalten. Eine Politik der Blockfreiheit ist nicht plausibel, wenn man auf der Weltbühne eine Position einnehmen will. Wie sieht es aus, wenn Ihre Regierung noch etwa drei Jahre im Amt ist … oder sogar in den nächsten zehn Jahren oder so? Wie ist die Position Indiens? Sich neutral zu verhalten ist keine Option, wenn man eine Führungsrolle in der Welt übernehmen will.»
«Ich glaube nicht, dass wir uns nicht positionieren», antwortete der Außenminister. «Nur weil ich Ihnen nicht zustimme, heißt das nicht, dass ich keinen Standpunkt einnehme. Es bedeutet, dass ich auf meinem Standpunkt beharre. Nehmen Sie alle großen Herausforderungen der Welt, ein Teil der Antwort kommt entweder aus Indien oder Indien kann dazu beitragen. Und ich sage es nur ungern. Aber es ist ein bisschen so, wie mit einer Schallplatte, die einen Sprung hat. Sehen Sie, außerhalb Europas passiert viel. Die Welt verändert sich, neue Akteure treten auf den Plan, neue Fähigkeiten entstehen, aber es braucht auch eine neue Agenda. Die Welt kann nicht mehr so eurozentrisch sein wie in der Vergangenheit.[1]«
Eine ähnliche Haltung wie Indien vertreten viele Länder im globalen Süden so unter anderen Brasilien, Indonesien oder auch China, das sich für eine friedliche Lösung im Ukraine-Konflikt eingesetzt hat und sowohl zu Russland wie auch zur Ukraine gute Beziehungen pflegt. Die Mitglieder des Verbandes Südostasiatischer Staaten (ASEAN) pflegen zur Ukraine und zu Russland gute Beziehungen. Auch im Spannungsfeld zwischen den USA und China stellen sie sich weder auf die eine noch auf die andere Seite: «Die Positionen der USA und Chinas mögen zwar sehr unterschiedlich sein, aber ASEAN hat es in all den Jahren verstanden, ein gewisses Maß an Neutralität aufrechtzuerhalten – eine gewisse Fähigkeit, miteinander Handel zu treiben.[2]
Fazit:
Für die schweizerische Außenpolitik wäre es sinnvoll und zielführend, sich die Worte des indischen Außenministers zu Herzen zu nehmen, dass sich unsere Welt verändert, neue Akteure auf den Plan getreten sind, eine neue Agenda nötig ist und unsere Welt nicht mehr «so eurozentrisch sein» kann wie in der Vergangenheit.
Statt transatlantisch ausgerichtet zu bleiben, und um die Gunst des Präsidenten einer untergehenden Weltmacht zu betteln, muss sich die Schweiz in Richtung einer multilateral ausgerichteten Welt orientieren, die begonnen hat, sich vom Blockdenken Richtung Neutralität zu verabschieden.
Darum braucht die Schweiz eine Renaissance ihrer integralen Neutralität, als eine Schweiz der Guten Dienste, die sich aktiv für das Völkerrecht, für das Gewaltverbot der Uno und für die Vermittlung unter Konfliktparteien einsetzt. Damit wird die Neutralität der Schweiz wieder zum strategischen «Schatz, der sich über Jahrhunderte bewährt hat (…) Ihre Rolle ist die des Vermittlers, des Gastgebers für Verhandlungen, des Stabilitätsankers (…) ein Ort, an dem Konflikte verhandelt statt ausgetragen werden. Ihre Neutralität ist kein Relikt, sondern ein strategisches Kapital», so der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer.
Quelle: Pascal Lottaz, Die Neutralität des Globalen Südens, in: der neue Norden, Nr. 6 8/2025, S. 5-6.
[1] https://www.youtube.com/watch?v=nLXUOKjW7CQ, 3.6.2022