Österreichs Neutralität von 1955 gerät unter Druck: Medwedew warnt vor NATO-Beitritt, Meinl-Reisinger widerspricht, FPÖ verteidigt Neutralität – Streit um Sicherheit und Souveränität eskaliert.
Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 war ein Schlüsselereignis auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg. Nach dem Sieg der Alliierten teilten sich diese die Alpenrepublik analog zu Deutschland in vier Besatzungszonen auf. Es ist heute nicht mehr allgemein bekannt, dass Wien bis 1955 in vier Sektoren eingeteilt war und die sowjetische Besatzungszone große Teile des Ostens Österreichs ausmachte.
Mit dem Staatsvertrag von 1955 wurde die Viermächtebesatzung aufgehoben. Österreich erhielt seine Souveränität zurück, musste sich aber vertraglich zu einer immerwährenden Neutralität nach Schweizer Muster verpflichten (wir haben hier und hier darüber berichtet). Es bestehen noch andere Vertragsbestimmungen, zum Beispiel das Verbot eines Anschlusses an Deutschland, das bereits in den Pariser Vorortsverträgen nach dem Ersten Weltkrieg enthalten war.
Zwar bekennen sich die österreichischen Großparteien zumindest offiziell immer noch zur Neutralität. Auch in der Bevölkerung genießt diese außenpolitische Maxime sehr hohe Zustimmung. Inoffiziell nähert sich aber Österreich der NATO immer mehr an. Durch gemeinsame Programme, Beschaffungen wie Sky Shield und außenpolitische Stellungnahmen entsteht immer mehr der Eindruck, dass Österreich nicht mehr neutral sei – auch wenn das Land sich bisher stets ans Neutralitätsrecht gehalten hat.
Uneingeschränkt bekennt sich aber nur die oppositionelle FPÖ zur Neutralität, die größte Partei Österreichs. Diese Partei und die regierenden ÖVP und SPÖ gibt es seit 1945 respektive 1918. Sie bekennen sich mit einigem Wenn und Aber zur Neutralität. Nun regieren erstmals die NEOS mit, eine neue Partei. Außenministerin Beate Meinl-Reisinger, die Parteichefin, ist offen für die Aufgabe der Neutralität.
Darauf hat nun der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew in einem Meinungsbeitrag auf der deutschsprachigen russischen Plattform RT reagiert. Der Artikel warnt vor einem möglichen NATO-Beitritt Österreichs und bezeichnet ihn als schweren Fehler für Europa und das Land selbst. Medwedew betont, dass Österreichs Neutralität seit 1955 im Staatsvertrag, im Moskauer Memorandum und im Verfassungsgesetz verankert sei und damit die Grundlage der modernen Staatlichkeit bilde. Eine einseitige Aufhebung sei völkerrechtlich nicht möglich, da Änderungen nur mit Zustimmung der vier alliierten Mächte von 1955 – einschließlich Russlands – erfolgen könnten. Er beschreibt die Entwicklung einer schrittweisen «Natofizierung» Österreichs seit den 1990er Jahren durch Beteiligung an EU-Militärstrukturen, NATO-Partnerschaften sowie durch seine Rolle als wichtiges Transitland für Militärtransporte
Ein NATO-Beitritt hätte nach Medwedews Ansicht schwerwiegende Folgen: Österreich würde seine besondere Rolle als neutraler Standort internationaler Organisationen verlieren, seine außenpolitische Handlungsfreiheit einschränken und zudem zur potenziellen Zielscheibe russischer Gegenmaßnahmen werden. Insgesamt sieht er darin eine Gefährdung sowohl für Österreichs innere Stabilität als auch für den europäischen Frieden.
Außenministerin Meinl-Reisinger betonte, nur die Österreicher selbst entschieden über die Sicherheit des Landes, und Russland habe sich nicht einzumischen. Der Anlass für die laufende Anpassung der österreichischen Sicherheitsstrategie sei der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Meinl-Reisinger unterstrich, dass Neutralität allein keinen Schutz biete, und zeigte sich erfreut über breite Unterstützung gegen Moskaus Drohungen – auch von der FPÖ.
FPÖ-Chef Herbert Kickl hingegen griff die Außenministerin scharf an und warf ihr vor, einen Anschlag auf die Neutralität zu begehen und Österreichs Sicherheit zu gefährden.
Wie ist dieser Sachverhalt einzuschätzen? Die provokative Sprache von Medwedew und die Drohungen sind natürlich ein Hindernis für eine sachliche und ehrliche Diskussion. Aber in der Sache hat der ehemalige russische Präsident nicht unrecht. Österreich hat sich 1955 vertraglich zur Neutralität verpflichtet. Das schließt zum Beispiel den Beitritt zu einem Militärbündnis aus. Im Gegenzug haben sich die vier Alliierten verpflichtet, alle Truppen abzuziehen, was sie dann auch getan haben. Selbstverständlich kann ein solcher Vertrag geändert werden – aber nur, wenn alle zustimmen – wie das zum Beispiel beim Zwei-plus-Vier-Vertrag in Bezug auf die Besatzung Deutschlands 1990 geschah. Auch die Tatsache, dass die Sowjetunion nicht mehr existiert, ist kein Argument. Sie hat einen Rechtsnachfolger: Russland.
Pacta sunt servanda heißt es im römischen Recht – Verträge sind einzuhalten, eine Selbstverständlichkeit, die auch Grundlage des Völkerrechts ist. Die Anrufung der clausula rebus sic stantibus (Bestimmung der gleich bleibenden Umstände) ermöglicht es zwar, einen Vertrag zu ändern, wenn sich entscheidende Umstände ändern und diese Umstände die Grundlage des Geschäftes waren. Aber der Tausch war eben hier genau, dass sich Österreich nicht der NATO anschließt, sobald die Besatzung endet.
Natürlich sind die Drohungen und Provokationen von Medwedew unstatthaft, aber der Kern seiner Forderungen, dass Österreich seine Neutralität nicht ohne Zustimmung der vier Signatarstaaten aufgeben darf, ist gut begründet und richtig. Denn wenn man Frieden schaffen will, muss man sich darauf verlassen können, dass Verträge eingehalten werden.