«Die Schweiz, ein Leuchtturm der Vernunft» – Prof. John Mearsheimer über die Neutralität der Schweiz

Ein Ausschnitt aus dem jüngsten Gespräch zwischen Weltwoche-Chef Roger Köppel und dem prominenten Geopolitik-Experten.

John Mearsheimer

John Mearsheimer ist Professor für Politikwissenschaft an der University of Chicago und einer der weltweit einflussreichsten Experten für Geopolitik. Seine Website: https://www.mearsheimer.com

Die Schweizer Neutralität ist ein strategischer Schatz, der sich über Jahrhunderte bewährt hat. Im Ersten Weltkrieg, als das kaiserliche Deutschland Europa dominierte, blieb die Schweiz neutral und unversehrt.
Im Zweiten Weltkrieg, trotz Nazi-Deutschland als direktem Nachbarn, überlebte sie ohne grosse Probleme, weil sie ihre bewaffnete Neutralität glaubwürdig verteidigte.
Im Kalten Krieg, zwischen Sowjetunion und USA, florierte die Schweiz als neutraler Staat, ein sicherer Hafen für Diplomatie und Wirtschaft.
Heute gibt es kein kaiserliches Deutschland, kein Nazi-Regime, keine Sowjetunion. Welche strategische Bedrohung gibt es für die Schweiz? Keine. Warum also die Neutralität aufgeben? 1914, 1939, 1945 gab es keinen Grund – warum 2025?

Die Schweizer Neutralität ist kein historisches Relikt, sondern ein Modell für die Zukunft. Sie ist bewaffnet, integral und umfassend – sie schliesst militärische Beteiligung an ausländischen Kriegen ebenso aus wie wirtschaftliche Kriegsführung, etwa durch Sanktionen.

Die Sanktionen gegen Russland waren ein Ausrutscher, der die Schweiz in den Ukraine-Konflikt gezogen hat, ohne strategischen Nutzen. Eine Rückkehr zur vollen Neutralität würde die Schweiz als unabhängigen Akteur stärken, der in einer chaotischen Welt Stabilität ausstrahlt. Neutralität ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von strategischem Weitblick.

Die Schweiz ist ein kleines Land in einem Dschungel, aber ihre Neutralität macht sie einzigartig. Sie hat keine Feinde, weil sie sich nicht in die Machtspiele der Grossmächte einmischt.

Ihre Rolle ist die des Vermittlers, des Gastgebers für Verhandlungen, des Stabilitätsankers. Denken Sie an die Wiener Kongresse, an Genf als Sitz internationaler Organisationen, an die Schweiz als Ort für Friedensgespräche – etwa beim Iran-Atomdeal oder bei humanitären Verhandlungen.

Diese Rolle ist wertvoller denn je, wenn die Grossmächte unberechenbarer werden und Europa ins Wanken gerät. In einer Welt, in der die USA sich zurückziehen, China an Einfluss gewinnt und Russland seine Interessen aggressiv verteidigt, braucht es neutrale Akteure, die Vertrauen geniessen.

Die Schweiz kann ein Leuchtturm der Vernunft sein, ein Ort, an dem Konflikte verhandelt statt ausgetragen werden. Ihre Neutralität ist kein Relikt, sondern ein strategisches Kapital, das sie von anderen unterscheidet. Sie sollte ihre Diplomatie ausbauen, ihre wirtschaftliche Stärke nutzen und ihre Rolle als Sitz internationaler Organisationen festigen. So bleibt sie ein rares Beispiel für Souveränität und Unabhängigkeit in einer Welt der Grossmachtkonflikte.


Quelle: Weltwoche: «Ende auf dem Schlachtfeld». 20.8.2025

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Teilen:

Weitere Artikel

Kontaktiere uns