Die Neutralitätsinitiative will die Schweizer Neutralität klar in der Verfassung verankern – als Garantie für Frieden, Unabhängigkeit und Sicherheit, fernab von Machtpolitik und Bündnissen. Von René Roca.
René Roca ist promovierter Historiker und Gymnasiallehrer. Er gründete und leitet das Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch). Er ist Mitglied im Komitee der Neutralitätsinitiative.
Definition, Inhalt und Ziele der Schweizer Neutralität
Im Grunde bedeutet Neutralität die Nichtbeteiligung eines Staates an einem Krieg anderer Staaten. Der Begriff stammt aus dem Latein: «neuter» und bedeutet: «Keiner von beiden.» Im 16. Jahrhundert entwickelte sich daraus die Definition: «Keiner (kriegsführenden) Partei angehörend.» In diesem Sinne finden sich bereits im Alten Testament, in der griechischen und römischen Antike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Beispiele für Neutralität. Die Schweiz praktizierte die Neutralität seit der frühen Neuzeit und trug wesentlich zu ihrer inhaltlichen Ausgestaltung bei. Die Geschichte der schweizerischen Neutralität ist im Rückblick für das Land, Europa und global betrachtet eine Erfolgsgeschichte, auch wenn Brüche und Widersprüche immer wieder festgestellt werden können. Die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz mussten sich den Wert der Neutralität im Laufe der Zeit immer wieder vergewissern und vermochten auf diese Weise die Existenz des Landes zu sichern und den Krieg fernzuhalten. Andere Länder brachten der schweizerischen Neutralität nicht immer nur Sympathien entgegen. Das humanitäre Engagement der Schweiz schwächte aber oft solche Kritik deutlich ab. Dieses Engagement zeigte sich besonders im Einsatz des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) oder der Guten Dienste. Als zentrales Ziel lässt sich aus der Ge-schichte die Wahrung des inneren und äusseren Friedens sowie des Gemeinwohls ableiten.
1.Bedeutung der Neutralität für die Schweiz
a) Behauptet wird: Die Schweizer Neutralität ist lediglich ein Instrument der Aussenpolitik und ist ein Mittel zum Zweck.
Fakt ist: Die Schweizer Neutralität ist weit mehr. Sie garantiert die Unabhängigkeit und Souveränität des Landes heute und für die kommenden Generationen. Auch muss sie das Fundament unserer Sicherheitspolitik sein. Die Neutralität ist die Seele der Schweiz!
b) Behauptet wird: Bezüglich jeder politischen Situation sollte man die Neutralität neu beurteilen.
Fakt ist: Neutralität an sich ist nicht wandelbar und lässt sich nicht an jede neue politische Situation einfach anpassen. Nur eine konsequente und glaubwürdige Neutralität schützt uns vor internationalen Konflikten, stärkt unsere Rolle als Vermittler und garantiert langfristig Stabilität und Sicherheit.
c) Behauptet wird: Die Schweizer Neutralität muss immer wieder neu definiert werden.
Fakt ist: Damit dies nicht mehr möglich ist, will die Neutralitätsinitiative die Neutralität klar in der Bundesverfassung definieren. Ohne eine solche klar definierte
Neutralität drohen politische Abhängigkeiten und sicherheitspolitische Unsicherheiten.
d) Behauptet wird: Die Schweiz muss Aggressoren und völkerrechtliche Verstösse moralisch verurteilen.
Fakt ist: Nur die konsequente Haltung eines Neutralen kann die Schweiz aus Konflikten heraushalten. Der neutrale Staat muss auf den Konflikt an sich zielen und nicht auf einen bestimmten Beteiligten eines Konfliktes. Indem die neutrale Schweiz nicht einseitig eine Konfliktpartei unterstützt, kann sie mit dem Angebot der Vermittlung zur Konfliktlösung beitragen und ihre Rolle als Schutzmacht bekräftigen.
Bundesrat und Parlament müssen Gewalt, Krieg und Terror von allen Seiten klar ablehnen, Gespräche einfordern und eine aktive Vermittlung anbieten.
Begründung: Die kompromisslose Haltung der neutralen Schweiz ist auch zentral für den inneren Zusammenhalt des multikulturellen und multireligiösen Landes. Anstatt zu moralisieren, muss die Schweiz konsequent auf Machtpolitik verzichten.
2. Überparteiliche Initiative
a) Behauptet wird: Die «Initiative zur Wahrung der Schweizer Neutralität (Neutralitätsinitiative)» ist eine Blocher- resp. SVP-Initiative.
Fakt ist: Das Komitee der Neutralitätsinitiative ist überparteilich zusammengesetzt, darunter neben SVP-Politikern auch Parteilose und Mitglieder aus anderen bürgerlichen Parteien. Die Initiative wurde nicht von einer Parteizentrale lanciert, sondern von einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe.
b) Behauptet wird: Die Neutralitätsinitiative ist eine «Putin-Initiative».
Fakt ist: Das ist reiner Populismus.
3. Geschichte der Schweizer Neutralität
a) Behauptet wird: Die Schweiz war gar nie neutral.
Fakt ist: Seit dem Wiener Kongress 1815 (2. Pariser Friede) ist die immerwährende Neutralität der Schweiz völkerrechtlich verankert. Dieser Vertrag gilt noch heute und zukünftig.
Begründung: Die Schweiz war schon vor 1815 neutral, aber teilweise bestanden immer noch Verpflichtungen (Bündnisse, Solddienste etc.). Das Völkerrecht (u.a. Grotius, Vattel) entstand erst ab dem 17. Jahrhundert.
b) Behauptet wird: 1815 zwangen die damaligen Grossmächte Grossbritannien, Preussen, Russland und Österreich der Schweiz die Neutralität auf.
Fakt ist: Die Tagsatzung beschloss vor dem 2. Pariser Frieden, dass die Schweiz neutral sein soll und instruierte entsprechend die Delegierten, die nach Wien geschickt wurden (wichtige Rolle Pictet de Rochemonts).
c) Behauptet wird: Während des Zweiten Weltkrieges (1939–1945) wickelten Schweizer Banken Nazi-Gold ab, die Schweizer Wirtschaft verkaufte Deutschland Maschinen und die Achsenmächte Deutschland und Italien nutzten den direkten Weg durch die Schweiz für Materiallieferungen.
Fakt ist: Diese Behauptungen stimmen zwar, aber die Schweiz lehnte eine vollständige Integration in Hitlers Finanzsystem ab, gewährte den Nazis niemals direkte Kontrolle über die Produktion und regulierte die Lieferungen durch das Land streng. Sie verweigerte in jeder Beziehung einen uneingeschränkten Zugang.
Begründung: Die Schweiz schloss jeweils – weil es um das Überleben des Staates ging – pragmatische Vereinbarungen mit Nazi-Deutschland ab, wurde jedoch nie zu einem Marionettenstaat. Das Überleben der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges war kein Zufall, sondern das Ergebnis einer bewussten und kalkulierten Strategie der bewaffneten Neutralität.
d) Behauptet wird: Die Schweiz war während des Kalten Krieges (1949–1989) gar nicht neutral, sondern in den Westblock integriert.
Fakt ist: Die Schweiz hat während des Kalten Krieges teilweise Wirtschaftssanktionen mitgetragen (z.B. 1951 informelles «Hotz-Linder-Abkommen»). Dies tat sie aber jeweils auf starken Druck der USA, die (wie heute!) mit Retorsionsmassnahmen gegen Schweizer Firmen drohten.
Begründung: Die Schweizer Neutralität wurde damit (ähnlich wie im Zweiten Weltkrieg) nicht konsequent genug angewandt, sie war aber immer noch sehr wichtig. Die Schweiz gewann während des Kalten Krieges immer wieder das Vertrauen der Konfliktparteien, so z.B. nach dem Koreakrieg 1953 (bis heute), für die Organisation der Genfer Indochina-Konferenz 1954 oder im Rahmen des KSZE-Prozesses ab 1975.
4. Völkerrecht
a) Behauptet wird: Das Haager Abkommen von 1907 («Rechte und Pflichten von neutralen Staaten») gilt nicht mehr, dafür gilt nun die UN-Charta.
Fakt ist: Das Haager Abkommen gilt als völkerrechtlicher Vertrag nach wie vor und stellt einen wichtigen Teil des Neutralitätsrechts dar.
Begründung: Völkerrechtliche Verträge können nur mit dem nötigen politischen Prozess (Parlamentsdebatte, allfällige Volksabstimmung) abgeändert oder aufgehoben werden. Dasselbe gilt z.B. auch für die Wiener Konferenzakte von 1815 (2. Pariser Friede), welche die «immerwährende Neutralität» der Schweiz völker-rechtlich verankert.
b) Behauptet wird: Wirtschaftssanktionen resp. «nichtmilitärische Zwangsmass-nahmen» muss die Schweiz auch zukünftig autonom oder kollektiv verhängen können.
Fakt ist: Sanktionen verstossen häufig gegen das Völkerrecht, verlängern Kriege, treffen besonders die arme Zivilbevölkerung, also die Falschen, und verunmöglichen für lange Zeit die Aufnahme von Friedensgesprächen.
Begründung: Wissenschaftliche Studien belegen die Wirkungslosigkeit von Sanktionen.
5. Humanitäres Völkerrecht und IKRK
a) Behauptet wird: Das IKRK (Rote Kreuz) ist nicht angewiesen auf die Schweizer Neutralität.
Fakt ist: Das IKRK kann nur mit einem glaubwürdig neutralen Staat im Rücken in vollem Umfange wirken. Das Humanitäre Völkerrecht kann nur so durchgesetzt werden und nur so erhält das IKRK Zugang zu allen Konfliktparteien. Zudem ist die Schweiz Depositarstaat der Genfer Konventionen.
b) Behauptet wird: Das IKRK kann durch andere humanitäre Organisationen ersetzt werden.
Fakt ist: Neben dem IKRK sind weitere humanitäre Organisationen wie «Médecins sans Frontières» (MSF) sehr wichtig. Das IKRK mit seinem Hauptsitz in Genf besitzt aber als einzige humanitäre Organisation ein spezielles Mandat. Dieses verpflichtet das IKRK bei Konflikten aktiv zu werden und die Konfliktparteien an das Humanitäre Völkerrecht zu erinnern.
Begründung: Beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte das IKRK neben weiteren Aufgaben 4’000 Personen zur Betreuung von Kriegsgefangenen und für das Auffinden von Vermissten. Zentral war auch die vom IKRK organisier-te «Kinderhilfe».
Heute wäre das IKRK beispielsweise im Gaza-Krieg sehr wichtig. Die Organisation wird aber durch eine «privatisierte», einseitige und gewalttätige Hilfsorganisati-on, die von Israel und den USA alimentiert wird, immer mehr auf die Seite ge-schoben. In diesem Zusammenhang häufen sich auch Angriffe gegen unabhängi-ge, humanitäre Organisationen, da man keine Augenzeugen mehr will.
6. Gute Dienste
a) Behauptet wird: Die «Guten Dienste» der Schweiz werden überbewertet. Sie ist in diesem Rahmen blosse «Briefträgerin».
Fakt ist: Die Guten Dienste der Schweiz haben sehr viel bewirkt und viel Leid konnte gemildert oder sogar verhindert werden. Die Schweiz trägt nicht bloss Briefe hin und her, sondern trägt diplomatisch immer wieder entscheidend dazu bei, dass Konflikte abgemildert oder gelöst werden. Dieses Engagement der Schweiz für das Gemeinwohl dient der ganzen Staatengemeinschaft und er-schöpft sich nicht in öffentlichen Anklagen, sondern ist stille Diplomatie.
Begründung: Die Schweiz entwickelte sich seit der Bundesstaatsgründung bis zum Ende des Kalten Krieges 1989/90 zu einer «diplomatischen Grossmacht». Beispiel: Einen Höhepunkt erreichte die humanitäre Hilfe der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg: Im Rahmen der Guten Dienste betreuten 1’200 Personen 319 Einzelmandate für 35 Länder. Den Status einer «diplomatischen Grossmacht» muss die Schweiz wieder erringen.
b) Behauptet wird: Gute Dienste und humanitäre Hilfe kann man auch leisten, ohne neutral zu sein.
Fakt ist: Ja, das stimmt, aber besser ist, wenn die Schweiz keine Machtpolitik betreibt und so als neutrales Land zu allen Konfliktparteien Kontakte knüpfen kann. Deshalb darf sie auch keinem Bündnis und keiner supranationalen Organisation angehören. «Es muss einen Ort auf der Welt geben, der ausschliesslich dem Frieden dient.» (Wolfgang von Wartburg)
7. Bewaffnete Neutralität
a) Behauptet wird: Eine bewaffnete Neutralität ist nur möglich, wenn wir mit der NATO eng zusammenarbeiten und gemeinsam militärische Übungen veranstalten.
Fakt ist: Die Schweizer Neutralität muss bewaffnet sein, und zwar mit einer Ar-mee, die Land und Leute im Angriffsfall erfolgreich verteidigt. Die bewaffnete Neutralität sollte auf der Grundlage einer möglichst autonomen Selbstverteidigung stehen. Die Schweiz darf sich einem Militärbündnis wie der NATO nicht weiter annähern und sollte aus der «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) der NATO austreten. Gespräche mit der NATO und gewisse Absprachen sind auch nach der Annahme der Initiative noch möglich.
Begründung: Die Schweizer Rüstungsindustrie (RUAG!) sollte ausschliesslich für die Schweizer Armee produzieren. Das «Kriegsmaterialgesetz» (KMG) sollte nicht gelockert (wie jetzt von der Politik angedacht), sondern verschärft werden. Die Rüstungsfirmen sollten nicht Güter aus der neutralen Schweiz exportieren, sonst verliert sie ihre Glaubwürdigkeit als neutrales Land.
b) Behauptet wird: Die Schweizer Armee kann das Land gar nicht verteidigen. Wir können unsere Armee gleich abschaffen.
Fakt ist: Ja, im Moment kann die Schweizer Armee unser Land nicht mehr verteidigen. Der Grund ist, dass die Armeereformen der letzten Jahrzehnte (Armee 21 und weitere Reformen) die Verteidigungsfähigkeit heruntergewirtschaftet haben. Nun müssen wir dafür sorgen, dass die Schweizer Neutralität wieder bewaffnet ist. Sie hat in den letzten über 200 Jahren unter anderem garantiert, dass wir nicht mehr militärisch besetzt wurden.
8. Handhabung der Neutralität
a) Behauptet wird: Die Neutralität muss man flexibel handhaben (Botschaft des Bundesrates zur Neutralitätsinitiative).
Fakt ist: Das untergräbt krass die Glaubwürdigkeit der Neutralität und ist letztlich «Rosinenpickerei».
Begründung: Deshalb ist die Neutralitätsinitiative so wichtig, da eine klare Definition der Neutralität in der Bundesverfassung verankert wird. Bundesrat und Parlament erhalten so die nötigen Leitplanken, wenn es um die Umsetzung der Neutralität geht.
b) Behauptet wird: Neutralität ist Profitmacherei.
Fakt ist: Die Schweiz sorgt jeweils dafür, dass in einem Konfliktfall keine Umgehungsgeschäfte via Schweiz stattfinden können.
Begründung: Die Schweiz handelt mit der angestrebten Verankerung der Neutralität in der Verfassung weder egoistisch noch isolationistisch, sondern im Dienste des weltweiten Friedens.
c) Behauptet wird: Die Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik ist entscheidend. Das Neutralitätsrecht ist juristisch definiert, die Neutralitätspolitik muss laufend den gegebenen Umständen angepasst werden.
Fakt ist: Die Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik ist künstlich. Der Text, mit dem die Neutralitätsinitiative die Bundesverfassung ergänzen will, definiert klar und deutlich, was es bedeutet, neutral zu sein.
9. Der neutrale Staat und die Gesinnungsneutralität der einzelnen Person
a) Behauptet wird: Im Ukraine-Krieg kann man gar nicht neutral bleiben.
Fakt ist: Die Schweiz hat gemäss dem Neutralitätsrecht die Verpflichtung in jedem Krieg neutral zu bleiben (Ausnahmen: siehe UN-Charta). Das Haager Abkommen von 1907 definiert die Rechte und Pflichten eines neutralen Landes. Es gilt auch heute noch.
Als Bürger muss ich nicht gesinnungsneutral bleiben, sondern kann mir eine kritische Meinung zum Konflikt bilden und diese auch öffentlich vertreten.
10. UNO-Beitritt der Schweiz 2003
a) Behauptet wird: Wegen dem UNO-Beitritt ist die Schweiz schon seit über 20 Jahren nicht mehr neutral.
Fakt ist: Der UNO-Beitritt hat die Neutralität der Schweiz beschädigt, obwohl sie beim Eintritt eine «Neutralitätserklärung» abgegeben hat. Die Mitgliedschaft der Schweiz im UN-Sicherheitsrat in den Jahren 2023 und 2024 hat nichts bewirkt, sondern hat im Gegenteil die Schweizer Neutralität weiter abgebaut.
Begründung: Der Vorbehalt zur UNO-Mitgliedschaft musste im Initiativtext berücksichtigt werden, da wegen der «Einheit der Materie» nicht auch noch die UNO-Mitgliedschaft der Schweiz infrage gestellt werden konnte.